
Der sehr geehrte Herr Landrat
Im dritten Schuljahr hatten wir Verkehrserziehung und behandelten auch die Verkehrsschilder. Als wir zu dem runden weißen Schild mit dem roten Rand kamen – „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ –, meldete sich ein Mitschüler: So ein Verkehrsschild steht auch in der Straße „Im Knatz“ – aber dahinter wohnen doch Leute. Wie kommen die zu ihrem Haus? – Da sei bestimmt ein Zusatzschild „Anwohner frei“, meinte unser Lehrer Hartmann. Nein, nein, beteuerte der Mitschüler, der auf seinem Schulweg täglich an der kurzen Stichstraße vorbei kam.
An diesem Tag sagte der Lehrer vor der letzten Stunde: Jacken anziehen! Wanderstunde! Wir gingen zu der Straße, die unbefestigt neben dem Bahndamm anstieg. Tatsächlich, da gab es ein Haus, das nur über den Stichweg erreichbar war. Und: Tatsächlich, da war kein Zusatzschild.
Einige Tage später besprachen wir die Verkehrsregelung nochmal. Dann hieß es: Hefte raus! Diktat! Sehr geehrter Herr Landrat, diktierte unser Klassenlehrer und schilderte das Verkehrsproblem. Das schönste Diktat wurde ausgesucht und an den Landrat geschickt; das kam natürlich nicht von uns Jungs, sondern von einer Mitschülerin.
In der folgenden Woche warteten wir auf Antwort - nichts geschah. Aber in der Woche drauf kam ein Brief. Es sei alles in Ordnung, die Bewohner des Hauses Im Knatz hätten eine Ausnahmeerlaubnis, schrieb der sehr geehrte Herr Landrat - oder er ließ es schreiben, das weiß ich nicht mehr. Das überzeugte uns nordhessische Drittklässler nicht: Was ist denn, wenn Besuch kommt, vielleicht die gebrechliche Oma, die gefahren werden muss, oder wenn es einen Notfall gibt und Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr zu dem Haus müssen? Sollen die erst auf eine Ausnahmeerlaubnis warten? Das nächste Diktat war fällig und bald schon ging ein weiterer Brief hinaus an den sehr geehrten Herren Landrat - wieder in der Schönschrift einer Mitschülerin.
Auf die Antwort des sehr geehrten Herrn Landrats mussten wir wieder warten - aber sie kam. Und der Landrat gab uns Recht. Weil wir so aufmerksam gewesen seien, legte er uns noch ein Geschenk dazu: Quartett-Spielkarten - mit Verkehrszeichen. Die nächste Wanderstunde führte uns zu dem Stichweg Im Knatz. Und tatsächlich: da gab es jetzt das vermisste Zusatzschild.
Das Quartett-Spiel haben wir drei oder vier mal mit der ganzen Klasse gespielt; für so viele Mitspieler mussten wir uns extra Spielregeln überlegen. Beim letzten Spiel bekam der Gewinner die Quartettkarten.
So unbedeutend ein kleines Zusatzschild unter einem Verkehrszeichen ist - ich habe damals gelernt, dass sich Engagement und Hartnäckigkeit lohnt und dass auch Drittklässler etwas bewegen können - und dass man Antworten bekommt, auch von einem Landrat. Für diese Erkenntnis bin ich meinem Lehrer Hartmann heute noch dankbar.
Axel Gerlach