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Vor einem halben Jahr - wer erinnert sich?

27.6.2020

Beeindruckende Uraufführung des Wildenbrucher Weihnachtsspiels am 21.12.2019

Da haben die Dornen Rosen getragen

Wie wir das Wildenbrucher Weihnachtsspiel nach über hundert Jahren uraufgeführt haben. Von Felix Schnetzer.

Wie muss sich Walter Schipke gefühlt haben, als er beim Aufräumen des Kirchenarchivs auf ein vergilbtes Heft gestoßen ist, eng beschrieben mit einer kaum lesbaren Schrift und dem Titel „Wildenbrucher Weihnachtsspiel“, datiert auf Januar 1914? 

Ute Baaske erkannte gleich den Wert dieses Schatzes und beschloss, ihn ins Licht der Öffentlichkeit zu heben. Ihre Schwiegermutter entzifferte die alte Schrift. Der Dramaturg René Odenthal kürzte mutig und glättete behutsam, um das Stück für unsere heutige Zeit genießbar zu machen, dabei aber den Geist des Originals zu bewahren. Dann wurden Darsteller/innen gesucht.  

Ab Oktober probte die Gruppe unter der Leitung von René Odenthal und Hans-Jochen Röhrig, stolperte erst durch den Text, versuchte die Termine mehr oder weniger erfolgreich mit Berufs- und Familienleben zu vereinbaren, staunte, welche Details und Tiefe das Stück entwickelte und wuchs trotz Vorweihnachtsstress zu einem Ensemble zusammen. Viele helfende Hände nähten im Hintergrund Kostüme, malten die Kulissen, druckten Plakate, richteten das Licht ein, probten die Musik. Und schließlich kam das Wildenbrucher Weihnachtsspiel am 21.12.2019 im „Dorfgasthaus zum Seddiner See“ zur Uraufführung. Die gebannte und herzliche Aufmerksamkeit des vollen Saales ließ uns Schauspieler/innen das Lampenfieber vergessen. Auch in der Wildenbrucher Dorfkirche spielte das Ensemble vor vollem Haus, erst am 26.12.2019, dann am 5.1.2020 im Rahmen des Regionalgottesdienstes. 

In der einzigartigen Atmosphäre der Dorfkirche wurde die Geschichte wieder lebendig, denn mit Sicherheit hatte Pfarrer Hoffmann das Stück für diesen steinernen Kirchenraum geschrieben. Über die Entstehungsgeschichte können wir heute nur mutmaßen, denn es gibt keine Aufzeichnungen. In dem Originaltext sind über dreißig Rollen angelegt. Also können wir davon ausgehen, dass damals ein großer Teil des Dorfes für die Rollen vorgesehen war. Vielleicht hatte der Pfarrer auch bestimmte Wildenbrucher von Augen, als der die Rollen entwickelte. Ob es aber überhaupt zu Proben und zur Aufführung kam, ist zweifelhaft, denn mitten im Sommer 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. 

Gekonnt und lebendig ist dieses Weihnachtsspiel geschrieben. Zeitgeschichtlich wie auch literarisch ist es eine Sensation; ein originelles Zeugnis Wildenbrucher Kultur. Die Figuren sind emotional vielschichtig angelegt. Die Reime überraschen durch Wortwitz und folgen einem intuitiven Fluss. Die Botschaft ist zeitlos: Es geht um die Kraft des bedingungslosen Glaubens in Zeiten des Zweifels. Ein Licht in der Finsternis. Keine Frage, Pfarrer Hoffmann hatte etwas zu sagen.

Wir sind glücklich, dass wir seiner Botschaft endlich eine Bühne geben konnten. 

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